Autorität und Autoritäten in musikalischer Theorie, Komposition und Aufführung

Autorität und Autoritäten in musikalischer Theorie, Komposition und Aufführung

Organizer(s)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich) Nicole Schwindt (Staatliche Musikhochschule Trossingen)
Location
Trossingen
Country
Germany
From - Until
25.04.2003 -
Conf. Website
By
Linda Maria Koldau, Musikhochschule Trossingen

III. Trossinger Symposium zur Renaissancemusikforschung:

Die Auctoritas – ein wesentlicher Faktor im Kunstschaffen des Mittelalters und der Renaissance – stand im Mittelpunkt des III. Trossingers Symposium zur Renaissancemusikforschung an der Staaatlichen Hochschule für Musik in Trossingen. Gemeinsam mit Laurenz Lütteken (Universität Zürich) hatte Nicole Schwindt (Musikhochschule Trossingen) zu einem Studientag eingeladen, auf dem in acht Referaten die verschiedenen Facetten von Autorität im Musikschaffen der Renaissance reflektiert wurden. Ausgangspunkt war der Wandel in der historischen Situation der Renaissance, das allmähliche Hervortreten von Individuation und Selbst-Bewusstsein, wodurch der mittelalterlich-abstrakte Verständnis der Auctoritas durch einen neuzeitlich individualisierten Begriff von Autoritäten als personifizierten Repräsentanten abgelöst wurde.

Als Mitorganisator der Tagung übernahm Laurenz Lütteken die Einleitung, in der er das grundlegende Spannungsfeld von Werk, Autor und Autorität umriss. Dabei zeigte er die Tendenz zur zunehmenden Individualisierung des musikalischen Werkes ab dem 14. Jahrhundert auf, als deren Pendant die immer ausgefeilteren Formen der Schriftlichkeit anzusehen sind. Gesamtausgaben von musikalischen Opera, etwa von Guillaume de Machaut oder Orlando di Lasso, stellen geradezu eine „Monumentalisierung“ von Autorität dar. Als wesentlichen Bezugspunkt für die folgenden Referate stellte er die Frage in den Raum, wie der Rang von Autorität entsteht, wann sie geglückt sei oder wann gescheitert (wie etwa der Versuch im 15. Jahrhundert, den Ruf anerkannter, heute jedoch völlig vergessener Komponisten durch die Prägung von Medaillen zu verewigen).

Schaffung von Autorität

Die ersten drei Referate waren der „Schaffung von Autorität“ gewidmet. Mit Bezug auf die jüdisch-christliche Tradition führte Andrea Lindmayr-Brandl (Salzburg) die Autorität von Namen vor Augen. Verbürgte in den mittelalterlichen Traktaten der musica theorica die Nennung eines Namens die Auctoritas einer Person, so galt es in der muisca practica, den Namen zu Musik zu machen. Lindmayr-Brandl unterschied hier in drei Kategorien: Eigensignaturen, bei denen der eigene Namen des Komponisten im Text benannt wird; Gruppensignaturen, wo eine Gruppe von Sängern oder Komponisten namentlich genannt wird (z.B. das Sängergebet von Loyset de Compère oder Josquins Deploration auf den Tod von Johannes Ockeghem); und Fremdsignaturen, bei denen der Namen eines anderen Sängers oder Musikers ) im Text vorkommt (z.B. die Deplorationen auf den Tod eines verehrten Musikers). In Werken von Johannes Ciconia, Antoine Busnoys und Guillaume Dufay zeigte Lindmayr-Brandl Beispiele für die erste Kategorie und hob die wesentliche Funktion dieser Nennungen hervor: Analog zur Namensnennung im Gebet geht es darum, den oder die Genannten in eine Erinnerungsgemeinschaft mit einzubeziehen.

Lothar Schmidt (Leipzig) wandte sich den theoretischen Schriften zu und machte deutlich, wie sich vom 15. bis ins 17. Jahrhundert die Autorität von den Theoretikern hin zu den Praktikern, d.h. den Komponisten verschiebt. Während in mittelalterlichen Traktaten nur mehr Theoretiker als Autoritäten aufgelistet werden, stellt Heinrich Glarean in seinem Dodekachordon (1547) erstmals auch Komponisten als „auctores“ in eine Reihe mit den Theoretikern. Ab ca. 1500 entfaltet sich die Komponistenautorität auf Grund verschiedener historischer und musikhistorischer Faktoren: Luthers Wertschätzung der Musik und speziell des Komponisten Josquin des Pres hebt deren Autorität entscheidend an, im katholischen Bereich begründen die päpstliche Kapelle und später Giovanni Pierluigi da Palestrina eine neue Autorität der komponierten und erklingenden Musik. Gleichzeitig ermöglicht der Notendruck eine gezielte Verbreitung der Werke eines Komponisten; hinzu kommen Musikerbiographien und -anekdoten, durch die immer mehr die Person des Komponisten in den Vordergrund rückt. Der entscheidende Wandel des musikalischen Autoritätskonzeptes vollzieht sich mit Claudio Monteverdis Manifest einer seconda prattica, das den atto prattico dem bislang übergeordneten atto teoretico gleich stellt. Mit seinem Referat über Instrumentalisten als Autoritäten wandte sich Jürgen Heidrich (Göttingen) dem praktischsten Bereich der Musikausübung zu – und zeigte in einem spannenden, alle Bereiche umfassenden Vortrag, wie viel Autorität den in der musica theorica gänzlich vernachlässigten Instrumentalisten in Mittelalter und Renaissance tatsächlich zukam. Fahrende Sänger und Spielleute wirkten bereits im Mittelalter als Vermittler politisch-weltlicher Autorität, die sich am besten am Instrument festmachen ließ: So kam der Trompete im ausgehenden Mittelalter eine neue weltliche, autoritätsstiftende Funktion zu. Ihre Autorität begründet sich jedoch nicht in der Musik selbst, d.h. in der individuellen musikalischen Leistung ihres Spielers, sondern in ihrer Einbettung in Funktions- und Patronagemechanismen, in denen die Trompete zunehmend als Herrschaftssymbol galt. Ein zweiter Bereich grundlegender Autorität der Instrumentalmusik bestand von jeher durch ihre biblische Legitimation: Während in der Ikonographie die himmlische Musik überwiegt (musizierende Engel, bildliche Ausdeutungen von Psalm 150), räumt die Bibel der Instrumentalmusik mehrere Funktionen ein (Gotteslob, therapeutische Wirkung, Stimulation zur Ekstase). In der Frührenaissance gewinnen einzelne Künstler an Autorität; als berühmtestes frühes Beispiel nannte Heidrich Pietrobono des Chitarino (ca. 1417-1497) am Hof von Ferrara. Mehrere autoritätsstiftende Vorgänge greifen in dieser Zeit ineinander: die Zurschaustellung instrumentaler Virtuosität vor einem gebildeten Publikum, die Beschreibung dieser Kunst durch Zeitgenossen, Abbildungen auf Porträtmedaillen, die „imagebildende“ große Nachfrage an verschiedenen europäischen Höfen und die mit der Kunstausübung einhergehende Funktion als Lehrer. In Deutschland wurden solche Instrumentalautoritäten am ehesten durch Organisten wie Paul Hofhaimer, Conrad Paumann und Arnold Schlick verkörpert, die sich stets im Milieu des gebildeten Adels und in führenden Humanistenkreisen bewegten, als Lehrer schulbildend wirkten, eigene Schriften verfassten und auf zahlreichen Porträts sowie in Beschreibungen verewigt wurden. Im Hinblick auf die Septem artes liberales ist hier ein intellektueller Aufstieg der Instrumentalmusik zu beobachten, die sich durch die zunehmende Schriftlichkeit in (Traktate und Notenschrift) und den Aufstieg berühmter Instrumentalisten dem Rang der musica teorica immer mehr annäherte.

Wahrnehmung von Autorität

In den folgenden zwei Beiträgen ging es um die „Wahrnehmung von Autorität“, exemplifiziert an Beispielen eines individuellen Komponisten und einer Institution. David Fallows (Manchester) zeigte anhand von konkreten Notenbeispielen, dass Josquin in seinem Schaffen immer wieder auf Material anderer Komponisten zurückgriff. Besonders der gleichaltrige Jacob Obrecht scheint für Josquin als Autorität gegolten zu haben, was einerseits an den Fortuna disperata-Messen beider Komponisten abzulesen ist, sich andererseits in Josquins Briefen aus den 1480-Jahren abzeichnet. In der folgenden Diskussion stellte sich die Frage nach der Bedeutung von „Auctoritas“ – liegt hier ein qualitativer Rangunterschied oder die Anerkennung auf kollegialer Ebene vor, galt Obrecht für Josquin als erhabene Autorität, oder handelt es sich bei den genannten Stücken um einen kollegialen Wettstreit (aemulatio) gleichrangiger Komponisten?

Um die päpstliche Kapelle ging es im Referat von Klaus Pietschmann (Zürich): Das frappante Ergebnis seiner Studien zu dieser Institution zeigt, dass die jahrzehntelangen Bemühungen der römischen Kurie, dieses Ensemble zum Hüter einer zentralen römisch-katholischen Liturgie zu machen, ironischerweise erst dann zum Erfolg führten, als sich die Zeit der Vokalpolyphonie dem Ende zuneigte. Ab den 1530-Jahren bestand die Kapelle vorwiegend aus Italienern und wurde so zum Modellchor für den römischen Sängernachwuchs (diese Umwandlung wurde von der Kurie in Zuge einer Italianisierung des Papsthofes gezielt herbeigeführt), und mit Giovanni Pierluigi da Palestrina als Sänger und Komponist gewinnt die Capella sistina auch in kompositorischer Hinsicht an Autorität. Palestrina jedoch bildet gleichsam den Endpunkt der Epoche großer Vokalpolyphonie; wenige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1595 wird er bereits zur Legende stilisiert, und der „Palestrina-Stil“ entwickelt sich ab dem folgenden Jahrhundert zum Kennzeichen eines ehrwürdigen, aber überholten Kompositionsideals.

Umgang mit Autorität

Der letzte Komplex war dem „Umgang mit Autorität“ gewidmet. Vincenzo Borghetti (Cremona) stellte musikalische Palimpseste des späten 15. Jahrhunderts vor, wobei er sich auf Werke über die Chanson Fors seulement konzentrierte: „art song reworkings“, gewissermaßen Kompositionen zweiten Grades, erscheinen als Ausdruck der Anerkennung einer bereits vorhandenen Komposition als normativer Autorität. Ihre größte Beliebtheit erreichte diese Kompositionsform ab den 1470er-Jahren, vor allem mit Werken von Dufay und Jaquet de Berchem als Vorbild.

Michele Calella (Zürich) wies, wie zuvor Jürgen Heidrich, die steigende Autorität von Instrumentalisten nach. Anhand des Lautentraktats Fronimo (1568) von Vincenzo Galilei – einer Tabulaturlehre, die in der Musikforschung bislang vernachlässigt worden ist – zeigte Calella, wie sich das Bild des Lautenisten vom gering geachteten „pulsator“ hin zum „gelehrten Musiker“ wandelt. Die Lautentabulatur erlaubt dem Spieler, ohne große intellektuelle Anstrengung Vokalmusik auf die Laute zu übertragen; es handelt sich hierbei also um einen rein pragmatischen Ansatz, bei dem die Vokalmusik und nicht etwa ein der Laute eigenes musikalisches Idiom im Mittelpunkt steht. Dem gegenüber steht die zunehmende Emanzipation des Lautenisten, die der allmählichen Veränderung des Bildes des Instrumentalisten entspricht: Die bislang vorherrschende Vokalmusik verliert im späten 16. Jahrhundert an Autorität, der ausführende Musiker wird dagegen zu einer ernst zu nehmenden Instanz.

Das abschließende Referat von Cristina Urchueguía (Frankfurt) gewährte einen faszinierenden Einblick in die spanisch-portugiesische Musikkultur des 16. Jahrhunderts. Anhand der extrem wenigen Musikdrucke, die im Zeitraum 1492-1650 in Spanien publiziert wurden, deckte Urchueguía die Mechanismen auf, welche die spanische Musikproduktion im 16. Jahrhundert bestimmten. In enger Verflechtung von politischer Macht, kultureller Tradition und musikalischer Praxis zeichnet sich in den spanischen Musiktraktaten ab 1550 eine sichtbare Darstellung der nationalen Zugehörigkeit ab, die bis hin zur Hispanisierung antiker Mythen (etwa ein Vihuela spielender Orpheus) reicht.

Laurenz Lüttekens humoristisch gefärbtes Schlusswort fasste die Ergebnisse, vor allem aber die offenen Fragen zusammen, die sich im Laufe des Tages ergeben hatten: Autorität und Autoritäten treten in der Musik der Renaissance in den unterschiedlichsten Formen auf, von konkreten Namensnennungen in theoretischen Traktaten über Institutionen und individuelle Musiker bis hin zu musikalischen Ideen. Mit welchen Strategien sie installiert werden, wie weit sie von der Folgegeneration als normstiftende Autorität oder als ebenbürtiges Vorbild wahrgenommen werden, welche Funktionen sie im jeweiligen Kontext erfüllen, das muss in jedem Fall neu überprüft werden – mit Lüttekens Worten hat sich im Laufe dieser anregenden Fachtagung „die Frage nach Autorität in eine Vielzahl von Fragezeichen aufgelöst.“

Zumindest eine völlig überzeugende Antwort auf diese Fragezeichen erklang im abschließenden Konzert des Ensembles Jachet de Mantoue, das unter dem sprechenden Konzerttitel „in musicorum principem“ Werke von Josquin Desprez, Jacquet von Mantua, Costanzo Festa und Cristóbal Morales vortrug. Wissenschaftlich eingeführt durch einen Programmtext von Nicole Schwindt, der fast schon als verschriftlichter Vortrag gelten konnte, ließen die fünf Sänger höchste musikalische Autoritäten der Renaissance erklingen und traten gleichzeitig als souveräne Autoritäten der historischen Aufführungspraxis auf. Der begeisterte Applaus von Tagungsteilnehmern und Trossinger Studenten zeigte, dass ein ertragreiches wissenschaftliches Symposium durch die Umsetzung der Erkenntnisse in die klingende Realität eine wesentliche zusätzliche Dimension erhält, die man nach einem Konzert wie diesem nicht mehr missen mag.

Contact (announcement)

Dr. Linda Maria Koldau
Brunnenwiesen 64
70619 Stuttgart
Tel. 0178-5333034
Email: lmkoldau@gmx.net


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